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Ich bin hart, ich bin zart
Mit einer begehbaren Choreografie von Sasha Waltz eröffnet der Steirische Herbst seine Saison


So muss sie wohl aussehen, unsere Patchworkidentität. Wie eine postmoderne Spielplatzstadt, verschachtelte Kisten, Räume, Emporen aus verschiedenen Materialien: Holz, Plastik, Glas, Metall, Stoff. Roh und bearbeitet, fragil und robust, mehrstöckig. Dicht gedrängte Zimmer, abseits gelegene Apartments. Dort ein kürbisartiges Rund wie ein Raumschiff, da eine silbrige Kühlbox. Regale, Schaukästen, Kisten. Groß und klein. Innen, außen manchmal klar zu unterscheiden, manchmal umgestülpt und beides gleichzeitig wie auf einem Escherbild. Dabei doch alles übersichtlich und dazwischen viel Raum zum Flanieren.
Den Biografien ihrer Tänzer nachgehen will Sasha Waltz, ihre Lebensstile untersuchen, ihre Statussymbole, Prägungen, Werte. Ausführliche Interviews, Improvisationen, Gespräche sind deshalb die Grundlage für insideout, die jüngste Arbeit der Berliner Choreografin, mit der nun in Graz der Steirische Herbst seine Saison eröffnet hat. Betritt man die große, hohe, stuhlfreie Helmut-List-Halle, betritt man eine sozialpsychologische Studie.
Oder besser viele Studien: Jeder Besucher muss sich seinen eigenen Weg suchen durch die zahllosen Szenen, Soli, Pas de Deux, Bilder, Andeutungen, Behauptungen. Ein Pianist hämmert am Bösendorfer Flügel auf Holz und Tasten, von der anderen Seite her antwortet entfernt ein Percussionist. Später setzen andere Musiker ein. Trompete, Streicher, Gitarre, Klarinette. Die Musik von Rebecca Sanders strukturiert atonal den Raum vor allem atmosphärisch, bleibt oft diffus, zieht dann die Konzentration zusammen wie auch die Choreografie es tut.
An der Längsseite auf einem Gerüstpodest ein zimmergroßer vorn verglaster Schaukasten: Drin geht eine komplettkarierte Schwarzweißfigur auf und ab mit Stock und Hut. Gegenüber, unten, beschriftet eine Tänzerin im leichten weißen Kleid Boxen; wird wohl ihr Leben drin sein. In einem anderen Abteil zieht eine Unterhose für Unterhose aus: blau, weiß, rot, schreibt spanisch, erklärt auf English, dass sie immer gut sein möchte, gut, brav und ordentlich, legt säuberlich pedantisch ihre Klamotten zusammen. Argentinischer Katholizismus und Kindheitstrauma. Dann schluckt sie einen langen, schwarzen Wollfaden, der zu einem Frauenporträt führt. Anderswo: Einer hinter Glas auf einer Schräge, vorne Sand, darin ein paar Flaschen. Wie für Post. Drüber auf dem Dach, auf frischem Rasen: Handstand, Überschlag und Übermut, aber immer auf der Kippe, plötzlich ernst.
Und wieder und wieder Utensilien in Schachteln: Fotos, Platten, Kleidungsstücke. Kleider machen Leute, das ist eines der zentralen Motive des Abends, frei nach Bourdieu und Baudrillard, zwei deutlichen theoretischen Bezugspunkten, werden Identitäten durch Klamotten konstruiert und ausgestellt. Die Geschichten bleiben dabei semikonkret, fassbar genug, aber nicht zu eindeutig. Assoziative neben realen Räumen, neben virtuellen: Philip Bußmann - als Videokünstler (u.a. bei der Wooster Group und William Forsythe) mit das beste, was einem Regisseur passieren kann - doppelt und disloziert das Geschehen, zeigt es aus befremdlichen Blickwinkeln und verschachtelt es, wie auch die Akteure immer mehr interagieren. Nähe und Ferne, kleine Beziehungsskizzen, wie sie das Tanztheater gern produziert: Anziehung und Abstoßung, Liebe und Macht. Dort ein Judo-Tanz, da eine Umarmung, eine Trennung. Und entscheidend immer wieder der Punkt, wie einer zum Tanz kam, wie alle zusammentrafen aus so vielen Ländern.
Plötzlich geht ein kollektiver Ruck durch das diffuse Hier und Da, das Licht geht an, hartes Rufen durch Megaphone aller Orten: Who are you, haben sie einen Ausweis, Was ist in der Tasche, What are you waiting for - Verhör und Protokolle in allen Boxen, hell und laut. Danach stehen alle in einer Reihe - tauschen Kleider, ziehen sich Hosen über Köpfe, Stiefel über Arme, plötzlich dann doch wieder frontal, zeitgleich und plakativ: Immer wieder ist insideout in einzelnen Bildern klischiert, tausendmal gesehen, kitschig - eine Gratwanderung zwischen gutem Gefühl fürs Präzise und fürs Spielerische, für spannungsreiche Details, intensive kleine Choreografien auf der einen und dem einfach Abgeschmackten, Schalen auf der anderen Seite: Pantomime, Kreativgewerbe, Straßentheater. Dann rufen die Bilder: Ich bin lyrisch, ich bin sehr fantasievoll, ich bin Kunst, ich komplex, ich bin hart und ich bin so zart. Und nichts dahinter.
Insideout ist absichtlich (wie der Titel es vorgibt), aber auch unabsichtlich unentschlossen: Sasha Waltz kombiniert die aus der Performancekunst altbekannte begehbare Szenenlandschaft, in der sich jeder sein eigenes Stück zusammenfügt, mit klassischer Theaterdramaturgie und richtig frontaler Zuschauerbespielung. Der Abend tut offener, als er ist: Er hat einen Anfang und ein klares Ende und der verstörende Reiz, nicht alles sehen zu können, wird großenteils ausgehebelt, weil einem das Timing erlaubt, doch das meiste mitzubekommen. Der Freiheit des Zuschauers traut Sasha Waltz wohl doch nicht wirklich über den Weg. Und führt so die komplexe, raffiniert gefügte Choreografie enger als es nötig wäre.

Graz, Helmut-List-Halle, 20.-21., 24.-26. September. An der Berliner Schaubühne ab 9. Oktober.

Florian Malzacher

erschienen in:
Frankfurter Rundschau, 20.09.2003   http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=307943